Was ist neu

Der Hochstapler

Seniors
Beitritt
12.02.2004
Beiträge
1.229
Zuletzt bearbeitet:

Der Hochstapler

Ich bin ein Hochstapler. Ich täusche vor, dass es mir gutgeht. Es gibt diesen Drang in mir, diese Sucht nach Bewunderung. Hin und wieder treibe ich es zu weit, doch nie kommt mir jemand auf die Schliche. Die Leute lassen sich gerne blenden! Wenn ich knapp mit einer meiner Aktionen davonkomme, die Knie zittern noch, meldet sich schon eine Minute später der Drang, die Welt in Erstaunen zu setzen. Und wenn mich das elende Gefühl beschleicht, wenn eine Art Dunkelheit und Leere mir die Hosenbeine hochkriecht und sich im Bauch festsetzt, trifft mich die Angst wie ein Kinnhaken. Doch ich taumle nicht. Das nicht. Angenommen, ich wäre einsam: Spielen solche Gefühle eine Rolle, wenn niemand sie bemerkt?

Nur heute ist einer dieser Tage, wo ich Mühe habe, die Fassung zu bewahren. Ich bin nach Hause gekommen, habe das Licht eingeschaltet, den Mantel ausgezogen. Er ist feucht vom Nieselregen. Die Schuhe ebenfalls. Ich habe sie ausgezogen und ordentlich in die Abtropftasse gestellt. Ich habe den Krawattenknoten gelockert, bin in Strümpfen in die Küche gegangen. Noch ehe mir klar wurde, dass Johanna nicht da ist, habe ich den Umschlag gesehen: ein Kuvert mit meinem Namen. Das ist alles. Mitten auf dem Tisch.

Da läutet das Telefon! Es ist Benny: "Hallo Charly, alter Seeräuber!" witzelt er. Was will er von mir? Wir treffen uns ohnehin morgen in der Agentur.
"Wie gehts so?"
"Oh, alles bestens! Naja, viel zu tun und so weiter, aber sonst..."
"Johanna? Oh, ja. Aber jetzt nicht..."
[usw.]

Während des Gesprächs gehe ich lässig auf und ab, lache die ganze Zeit, spiele mit dem Hörer des Designer-Telefons. Er macht einen seiner dummen Scherze. Ich lache noch ("Hahaha!") als er auflegt und lache sekundenlang weiter, bis mein Gesicht erstarrt und mein Blick wieder an dem Umschlag hängen bleibt. Ich sehe jetzt vermutlich aus, als wäre ich in einen Haufen Hundekot getreten.

Alles wegen des blöden Umschlags? Bevor ich ihn gesehen habe, war alles bestens. Hätte ich ihn nicht bemerkt, würde ich mich immer noch gut und sicher fühlen. Habe ich ihn gesehen? Ja. Auf mehrere Schritte Entfernung. Was bedeutet er? Ich bin mir nicht sicher. Erst mal ins Wohnzimmer gehen und einen Whisky trinken und für eine halbe Stunde die Beine ausstrecken! Das Licht im Vorraum lasse ich brennen. Für Johanna.

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Tag, lieber Berg,

das Gute zuerst: Der Text ist hübsch kurz und angenehm zu lesen. Trotzdem ist er (auf seine ruhige und bedächtige Art) unbefriedigend für mich.

Der Held fängt schon damit an, sich als Schwindler zu bezeichnen, im Titel steht sogar Hochstapler. Dann philosophiert er umgehend darüber, wie und warum er das ist, wie es sich anfühlt; er zerfällt also sofort in einen, der handelt und einen, der analysiert, versteigt sich dabei sogar zu diesem einen Satz, der sowohl unglaublich tiefsinnig als auch unglaublich unlogisch und dämlich ist, je nachdem, von welcher Seite man ihn ansieht:

Angenommen, ich wäre einsam: Spielen solche Gefühle eine Rolle, wenn niemand sie bemerkt?
Tiefsinnig ist da vor allem der erste Eindruck. Klassisches Grundproblem: Wie klingt das, wenn keiner zuhört?
Andererseits ist das Hirnslapstick, denn will man es zu etwas Konkretem in Bezug setzen, verpufft es.

Jeder Mensch, der sich und andere auf diese Weise beobachtet und blendet, ist einsam, da er sich vom unmittelbaren Erleben abschneidet (und auch das beobachtet, ein 1a Teufelskreis). Dein Held weiß, daß er einsam ist. Und er weiß auch, daß es "all diese Gefühle" niemals geben würde, wenn sie keiner bemerken könnte. Er weiß sogar, daß all diese Gedanken eitel sind, solange er Fassung bewahrt. Er erlaubt sie sich trotzdem, denn heimlich sind sie sein ganzer Stolz. Du hast deinen Helden also in ein klassisches, extrem häufig zu beobachtendes selbstgewähltes Gefängnis gesetzt.

Gefängnisgeschichten werden gut durch tollen Ausbruch oder besondere Gefangene. Beides bietet Deine Geschichte nicht.
Dein Gefangener hat kein interessantes Verbrechen begangen, d.h. er hat weder Vorgeschichte noch Gesicht. Er tut halt so, als ginge es ihm gut. Die "Aktionen" und "zitternden Knie" deuten zwar an, daß er manchmal etwas Aufregendes erlebt, würde er aber z.B. hauswandsurfen oder extremtauchen, wäre ja nicht seine Befürchtung, man könnte ihm auf die Schliche kommen. Er will einfach nicht, daß jemand sieht, daß er sich unsicher fühlt und kleiner ist als er tut, ein Allerweltsproblem, dem zu große Wörter angezogen werden (die Welt in Erstaunen setzen).

Etliche der Besten sitzen in solchen Gefängnissen, umgeben von Abgründen, Lügen, Phantasien, Strategien, die den stärksten Mann umhauen. Von ihren Leidenschaften und Sehnsüchten, ihrer Einsamkeit und Leere zittern die Wände und verbiegt sich die Zeit. Ihre Ausbrüche schreiben Weltgeschichte, Symphonien, zetteln Kriege an, ihr Scheitern wird in Liedern besungen, Frauen schmelzen dahin, alles auch metaphorisch zu verstehen, meinetwegen grob übertrieben, aber versteh, was ich meine: Dein Gefangener hat stattdessen eine Abtropftasse und ein Designtelefon.

Jetzt liegt da dieser Umschlag (der berühmte Umschlag mitten auf dem Tisch) und enthält entweder einen Abschiedsbrief (paar Möglichkeiten) oder sonstwas (Liebesbrief, Eintrittskarte, Fahrkarte, Stromrechnung, tausend Möglichkeiten). Tja, und dann ist die Geschichte aus.
Vielleicht kommt Johanna nachher zurück und motzt, weil sie allein in der Modenschau war, während er schlechten Whisky trank und in Puddinggedanken schwamm. Oder sie ist weg, dann muß er noch mehr schlechten Whisky trinken und Fassung bewahren, bis er eine neue Johanna kriegt.

Falls Du jetzt sagst: Jaaa! genau das wollte ich sagen! Der Jedermann und sein Dingsda, mit dem er sich so wichtig nimmt, bis plötzlich ...!, dann weiß ich natürlich auch nicht. Aber hier hätt ich noch:

Wenn ich wieder einmal knapp mit einer meiner Aktionen davonkomme, die Knie zittern noch, meldet sich schon eine Minute später der Drang, die Welt noch mehr in Erstaunen zu setzen. Und wenn mich in manchen Momenten das elende Gefühl beschleicht, wenn eine Art Dunkelheit und Leere mir die Hosenbeine hochkriecht und sich im Bauch festsetzt, trifft mich die Angst jedesmal wie ein Kinnhaken.
Also, zumindest die letzten beiden Fetten könnten gut weg.
habe das Licht eingeschaltet
alter Seeräuber!
eine halbe Stunde

Liebe Grüße!
Makita.

P.S. Kennst Du "San Salvador" von Peter Bichsel? Ganz kurze Geschichte. Wenn Du mal nix zu tun hast -

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Berg!

Mir hat die Geschichte gut gefallen, sie lebt von dem, was eben nicht erzählt wird: Die schlechte Beziehung zu Johanna. Das wird ja angedeutet, es geht ihm viel schlechter, als er nach außen hin zugibt, schon BEVOR er den Brief gesehen hat, ich denk, er weiß genau, was drinsteht, er tut nur so, als ob er es nicht wüsste, weil er eben ein Schwindler ist, sich selbst beschwindelt. So gesehen hast du den Anfang schön zum Ende hin gespannt.

Alles wegen des blöden Umschlags? Bevor ich ihn gesehen habe, war alles bestens. Hätte ich ihn nicht bemerkt, würde ich mich immer noch gut und sicher fühlen

Und hier genau beginnt er, sich selbst zu beschwindeln, er hat sich ja schon vorher mies und einsam gefühlt. Für mich besteht kein Zweifel, dass das ein Abschiedsbrief Johannas ist, da gibt´s bestimmt keine mehreren Möglichkeiten, eine unwichtige Nachricht steckt man nicht in ein Kuvert und schreibt den Namen drauf.

Kurz, prägnant, auch berührend, und von einem Guss!

Gruß
Andrea

PS: Aja, ich hab hiermit das langjährige Verdikt eigenmächtig aufgehoben! :D

 

Hallo Berg,
jetzt mal ganz böse: Was mir an deiner Geschichte total gut gefallen hat, ist der lebensprühende Kommentar von Makita!
Ansonsten ist es eine Allerweltsgeschichte, die weder den Prot. für den Leser zugänglich macht oder irgendeine Art von Interesse weckt, (Obwohl es möglich wäre!), noch erzählst du eine Geschichte, bei der ich andocken könnte. Ich bin mir aber sicher, dass es mit ein bisschen Mühe eine echte Geschichte werden könnte, die über eine halbgare Selbstanalyse hinausgehen könnte. Siehe Makita!
LG,
Jutta

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Tag, liebe Makita, hallo Andrea, hallo Jutta,

@Makita: Wieder so eine lange, durchdachte und witzige Kritik! Vielen Dank, dass Du Dich so mit der Geschichte auseinander gesetzt hast. Bei solchen Gelegenheiten bekomme ich immer Schuldgefühle. Aber schauen wir mal, ob ich zur Kritik auch etwas sagen kann. Eines vorneweg: Dieser Pfeil hat quasi sein Ziel nicht getroffen. Aber vielleicht geht da ja noch was.

Der Held fängt schon damit an, sich als Schwindler zu bezeichnen, im Titel steht sogar Hochstapler
Das muss so sein. ;) Errätst Du, warum? Nichts Tiefsinniges, aber die Grundidee dieser Geschichte.

Ob Gefühle da sind, die niemand bemerkt:

Tiefsinnig ist da vor allem der erste Eindruck. Klassisches Grundproblem: Wie klingt das, wenn keiner zuhört?
Andererseits ist das Hirnslapstick, denn will man es zu etwas Konkretem in Bezug setzen, verpufft es.
Manche Leute verdrängen das Unangenehme. Sie tun, als wäre es nicht da und damit ist für sie das Problem für eine Weile erledigt. Dieser Freund von Dir, den Du im Chat erwähnt hast, macht das so mit Rechnungen. Viele Leute tun das.

Jeder Mensch, der sich und andere auf diese Weise beobachtet und blendet, ist einsam, da er sich vom unmittelbaren Erleben abschneidet (und auch das beobachtet, ein 1a Teufelskreis). Dein Held weiß, daß er einsam ist. Und er weiß auch, daß es "all diese Gefühle" niemals geben würde, wenn sie keiner bemerken könnte. Er weiß sogar, daß all diese Gedanken eitel sind, solange er Fassung bewahrt. Er erlaubt sie sich trotzdem, denn heimlich sind sie sein ganzer Stolz. Du hast deinen Helden also in ein klassisches, extrem häufig zu beobachtendes selbstgewähltes Gefängnis gesetzt.
Das hast du wunderschön ausgedrückt! In nur sechs Zeilen. Besonders, das diese Gedanken insgeheim sein ganzer Stolz sind, erinnern mich an ein bekanntes Gedicht (das damit zu tun hat, warum der Erzähler sich selbst als Schwindler bezeichnet).

Jetzt liegt da dieser Umschlag (der berühmte Umschlag mitten auf dem Tisch) und enthält entweder einen Abschiedsbrief (paar Möglichkeiten) oder sonstwas (Liebesbrief, Eintrittskarte, Fahrkarte, Stromrechnung, tausend Möglichkeiten). Tja, und dann ist die Geschichte aus.
Hier habe ich wirklich Mist gebaut, wenn nicht verständlich war, dass es die Art von Brief ist, in der steht, dass alles vorbei ist - was den Zusammenbruch einer Welt nach sich zieht. Kennst Du das nicht? Man bekommt so einen Brief und weiß schon wenn man nur den Umschlag sieht, was drinstehen wird. Der Erzähler weiß, dass Johanna nie mehr zurückkommen wird. Aber den Moment, in dem er sich das eingestehen muss, zögert er so lange hinaus wie er nur kann.

Fehler werden weggeputzt und San Salvador gelesen. Besonders, wenns kurz ist. ;)

@Andrea: Danke! Das hätte ich nicht erwartet. Welches Verdikt?

@Jutta: So hat Dir mein Text über den Umweg des Kommentars von Makita wenigstens ein bisschen Freude gemacht. ;)

Liebe Grüße,

Berg


P.S.: kleiner Nachtrag: Hier das Musikvideo zur Geschichte:
[ame="http://www.youtube.com/watch?v=ZbIcfFD30Ms"]YouTube - FREDDIE MERCURY: The Great Pretender[/ame]

 

Der Text ist gut geschrieben und ich finde ich nicht schlecht. Du hast doch aber eineiges geändert/gekürzt, oder nicht? Vielleicht gefiel mir die alte Version besser. Dieser hier ist weniger schräg. Das mit dem Hochstapler kommt gar nicht richtig zur geltung. Das war denke ich in der alten mehr drin, ist aber leider schon etwas länger her, dass ich es gelesen hab, kann also nicht direkt vergleichen. Mir gefiel vor allem der erste Absatz, da will man weiterlesen, aber danach muss mehr kommen..

mfg,

JuJu

 

Zur Geschichte scheint schon alles gesagt zu sein,

lieber Fritz,

aber zwei, drei Dinge will ich doch loswerden (oder die Kleinkrämerseele in mir?): Es beginnt schon am Anfang: >Ich bin ein Hochstapler. Ich täusche vor, dass es mir gutgeht.< Der Nebensatz ist nicht inkorrekt, doch wäre nicht der Konjunktiv besser angebracht: "..., dass es mir gut gehe" (hier setzt man heutigentags gern Deine Konstruktion ein), aber wir wissen doch, dass es ihm eben nicht gutgeht, also Konj. irrealis: "..., das es mir gutginge."

Und zum Ende hin >Hätte ich ihn nicht bemerkt, würde ich mich immer noch gut und sicher fühlen<, hier könnte man auf die würde-Konstruktion verzichten, ohne dass es den Leser verwirrte: "..., fühlte ich mich immer noch gut und sicher", was dem wohltuend kurz & knapp gehaltenen Text um eine Beziehungskiste weitere (vielleicht sogar überflüssige) Worte ersparte.

Aber ich weiß nun, dass Du einfache Satzkonstruktionen bevorzugst, die zudem wohlgeordnet sind - wie's Dein Protagonist gerne hätte.

Trotz allem: die Geschichte gefällt mir durchaus!

Gruß & schöne Feiertage wünscht

Friedel

Du kennst übrigens zumindest "Geld stinkt nicht", aber Sombart ist lange tot...

 

Liebwerter Friedel,

danke für die Anmerkungen zu den korrekten Konjunktiven am Beginn und Ende. "... dass es mir gut gehe" oder "... gut ginge" klingt für den normalen Sprachgebrauch ungewöhnlich. Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich eine stark vereinfachte Version der Regeln der deutschen Grammatik anwende: Richtig ist alles, was nicht allzuviel Protestgeschrei erregt. ;)

Freundliche Grüße vom

Berg

 

Ist er auch,

lieber Berg (das klingt ganz schön mächtig!),

ungewöhnlich und die meisten sind selbst der indirekten Rede und der Verwendung des Konj. I entwöhnt. Konj. II schwebt den meisten schon über den Wolken, dass die englische Grammatik eine Erleichterung verspricht (und dabei dann vergessen wird, dass das would nicht nur ein würde ist.

Umgangssprache ist eben, wie man mit der Sprache "umgeht", also auch, wie man Klippen umschifft (um geht).

Tschüss

Friedel

 

Hey Berg!

Das klingt für mich auch ein wenig nach Selbstanalyse. Und am Ende frage ich mich: Und nun?

Die Geschichte fängt mit einem Apfel an und endet mit einer Birne. Das passt nicht zusammen. Er denkt über sich nach und beschreibt sich und telefoniert und dann setzt er sich hin und lässt das Licht brennen - wohl in der Hoffnung, dass sie doch noch heimkehrt. Erst der Blick ins Innere und dann ein wenig Handlung.

Wenn du dich für eine Seite entschieden hättest, fände ichs besser. So, wie du es hast, müsste die Geschichte entweder noch bisschen Vorbau haben oder sie müsste weitergehen, um rund und interessant zu werden.

Bis bald!

yours

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom